Von der Selbstverletzung zu einem neuen Selbstwert

Nina rief mich kurz vor dem Lockdown, in März 2020 an, wir mussten unser erstes Treffen verschieben und sie kam dann zwei Monate später in mein Atelier. Nina ist 16 Jahre alt und im ersten Lehrjahr zur Pflegefachfrau.

Nina ist seit zwei Jahren in einer Beziehung mit einem jungen Mann, der vier Jahre älter ist. Ihr Leben ist stark auf ihn ausgerichtet. Ihr Selbstwert ist sehr unstabil und immer wieder entsteht in ihr ein Gefühlschaos, wo sie sich ritzen muss um der Druck nicht mehr zu spüren. Sie hat dazwischen aufgehört aber mittlerweile wieder angefangen, es aber ihren Eltern verschwiegen, wodurch sich ihr Druck zusätzlich erhöht hat.

Mit diesen Informationen schlage ich Nina vor, ein «Gefühlsketten» Bildprozess zu machen, damit sie ihre Gefühlschaos besser einordnen und kennen lernen kann. Nina hat noch keine Erfahrung mit dieser Therapieart, wo mit der linken Hand gemalt wird. Ich frage sie welche Farbe hat dein Gefühlschaos, sie Antwort «rot». Sie nimmt die Farbe in der Hand und ich ermutige sie, mit ihrem Gefühl im Kontakt zu kommen. Die Gefühle kommen rasch an die Oberfläche und Nina malt mit der Farbe Rot bis ein neues Gefühl in ihr Platz einnimmt, es ist «Trauer». Für die Trauer wählt Nina die Farbe Blau. Das Blau setzt sie an der roten Farbe an und lässt die Trauer in ihr Raum einnehmen bis die Wut sich wieder meldet, da wechselt sie wieder auf die Farbe Rot. Nina ist Überrascht wie schnell sich die Gefühle verändern und wie klar sie sich in ihr zeigen. Nach der Wut kommt ein neues Gefühl, die «Ohnmacht». Nina wählt Grün und malt weiter, dann kommt wieder die Wut, da sag Nina «Ich bin hässig auf mich, weil ich hässig bin». Sie ist überrascht, dass sie das sagt, da liegt der Anfang ihres Gefühlschaos. Den Satz schreibe ich mir für das weitere Vorgehen in der Therapie auf. Dann meldet sich wieder die Trauer und zum Schluss breitet sich in ihr ein neues Gefühl aus: Klarheit und Ruhe nehmen Raum ein. Dieses Gefühl kennt Nina nach einem soeben erlebten Gefühlschaos so noch nicht. In diesen Momenten hat sie sich sonst, um sich zu erleichtern, geritzt, worauf Scham folgte, statt wie jetzt Klarheit und Ruhe.

Rot: Chaos, Blau: Trauer, Grün: Ohnmacht, Orange: Klarheit und Ruhe

Nina erzählt in der zweiten Therapiesitzung, dass sie kurz darauf ihren Eltern erzählte, dass sie sich wieder geritzt hat, worauf  sich ihr empfundener Druck löste. Ab diesem Moment hat sie sich nicht mehr geritzt, sie ist erstaunt, dass das Malen ihr so geholfen hat.

Wir haben der Satz: «Ich bin hässig auf mich, weil ich hässig bin!» exploriert:

  • Wann kommt dieser Satz in dir hoch, wann tritt das auf? Es ist vor allem in Situationen, im Zusammenhang mit meinem Freund. Er verhält sich zunehmend merkwürdig, unklar, es wird immer schwieriger ihm zu glauben, wenn er sich rechtfertigt (die Gefühle, die in Nina aufsteigen, unterdrückt sie, bis sie immer verwirrender werden, bis sie zu einem Gefühlschaos mutieren). Ich habe ein komisches Gefühle gegenüber meinem Freud, obwohl ich ihm liebe, das macht mich dann «hässig» (Durch diese vermehrten Situationen ist Nina sich ihren Wert nicht mehr sicher, ihre Selbstwert ist sehr tief und lässt viele Situationen durchgehen, so wird sie von ihrem Freund immer weniger respektiert).
  • Woran wirst du erkennen, dass sich etwas geändert hat? Wenn ich ein Gefühlschaos habe und mich nicht mehr Ritze und meine Gefühle einordnen kann.
  • Wenn das, was dich belastet, weg ist, wofür gibts dann Platz? Es ist schwer etwas für mich zu finden.
  • Was spürst du im Körper? Druck im Brustbereich
  • Welches Gefühl hast du? Wut und Trauer
  • Was denkst du dann über dich? Ich bin hilflos
  • Was möchtest du über dich denken? Ich bin wunderbar
  • SUD (Ausmass der Belastung): sehr stark = 9
  • VOC (Stimmigkeit des positiven Satzes): noch gar nicht = 2

Für den Satz: «Ich bin hässig auf mich, weil ich hässig bin» hat Nina die Metapher Peperoni gemalt. Nach dem Malen sind die Werte von SUD (Ausmass der Belastung) von 9 auf 2 gesunken.

«Ich bin hässig auf mich, weil ich hässig bin»

Zur dritten Therapiesitzung kam Nina direkt von der Arbeit, trotz starker Migräne, welche seit einem Tag anhaltend ist. Nina ist sehr verantwortungsbewusst und ist trotzt der starken Schmerzen zur Arbeit und Therapie erscheinen. Ich erkläre ihr, dass wir mit einer Metapher die Migränen auch malen können. Sie lässt sich auf das Experiment ein und wählt den Ballon als Metapher. Nach dem Malen hatte Nina fast keine Kopfschmerzen mehr und geht erleichtert nach Hause.


Migräne

In der vierten Sitzung erzählt Nina was sich alles schon verändert hat. Nach der letzten Therapiesitzung traf sie sich mit ihrem Freud, während dem Gespräch konnte sie ihm klar sagen, dass sie es Wert sein, geliebt zu werden. Sie war sehr überrascht, dass so klare Worte aus ihr heraus kamen und es fühlte sich für sie auch gut an, es auszusprechen, egal ob die Beziehung weiter gehen würde oder nicht. Inzwischen hat sie auch wieder Kontakt mit Freundinnen aufgenommen und will ihn auch weiterhin pflegen. Aber für sich etwas zu gönnen, fällt ihr immer noch schwer, dies ist ihr bewusst, vor allem auch, dass es wichtig ist in ihrem sozialen Beruf ein Gleichgewicht zu finden. Als nächstes malt Nina eine Blume als Metapher für den positiven Satz «ich bin Wunderbar». Diese Metapher soll auch ihren Selbstwert stärken. Sie war erstaunt, wie gut es ihr gelungen ist, die Blume zu malen und freute sich sehr darüber, sie strahlte über das ganze Gesicht.

«ich bin Wunderbar»

In der fünften Therapiesitzung erzählt Nina, während dem sie den türkis Hintergrund des Blumenbildes malte, wie sie sich immer besser fühle und dass es so schön sei, wieder ein soziales Leben zu haben und nicht mehr so fixiert auf ihren Freund zu sein. Nina erwähnt  verschieden Situation, wie ihr Freund sie behandelt und dass sie jetzt ihre Gefühle besser verstehe und ihm auch mit neuen Augen betrachte.

«ich bin Wunderbar»

Als Nina zur sechsten Therapiestunde kam, war das Thema, sich selber etwas Gutes zu tun, immer noch präsent. Ich schlug Nina vor, eine Metapher für den «leeren Raum» zu malen, die Stelle also, die jetzt leer geworden ist, weil der Druck des Gefühlschaos, der vorher da war, jetzt weg ist. Also eine Metapher dafür zu malen, damit diese Stelle nicht leer bliebe.

Der Regenschirm als Metapher für den leer gewordenen Raum

Nina scheint jetzt relativ stabil zu sein. In der siebten Therapiesitzung erzählt sie von einem Altraum, den sie vor ein paar Tagen hatte: Ihr Freud ging fremd, sie ist sehr verletzt, wird wütend und sagt ihm klar ihre Meinung. Der Traum zeigt, dass ihr Selbstwert stärker geworden ist und sich neu anfühlt. Um dieses Gefühl zu stärken malt Nina als Metapher ein Glace.

Verankern, ein Bild für das neue Gefühl des Selbstwerts

Nach dem wir die Therapieintervalle verlängert haben, kommt Nina einen Monat später, es ist viel passiert in der Zwischenzeit, wo wir uns nicht gesehen haben. Sie hat sich von ihrem Freud getrennt mit dem sie fast drei Jahre zusammen war. Es war zeitweise emotional sehr intensiv aber sie hat sich nicht geritzt. Sie hat den Zusammenhang gesehen und konnte den Abstand zu ihren Gefühlen bewahren. Sie fühlt sich jetzt freier und freut sich auf das Leben, dass ihr bevor steht. Nina malt eine Landschaft für das neue Gefühl der Freiheit und Beweglichkeit.

Landschaft, ein Bild für das Gefühl der Freiheit und Beweglichkeit
In der letzten Therapiesitzung machen wir einen Rückblick und schauen was Nina für ein Weg von März bis Juli gemacht hat und würdigen diesen Prozess mit  der Torte als Metapher.
Fazit des Therapieprozesses:
  • Kann ihre Gefühle einordnen
  • Ritzt sich nicht mehr
  • Hat wieder soziale Kontakte
  • Der Selbstwert hat wieder eine gesunde Grösse
  • kann Grenze setzten gegenüber ihrem Ex-Freund

Würdigung für der Weg, der gegangen worden ist

Nina ist froh eine Therapieform gefunden zu haben, die ihr geholfen hat, ihre Gefühl besser kennen zu lernen und zu verstehen, sowie ihre inneren Werte wieder zu erlangen. Mit ihrem Freund hat sie bis heute eine klare Grenze gezogen, so eine Beziehung, wo sie nicht respektiert wird, lässt sie bis heute nicht mehr zu.